Der Dämon der Verallgemeinerung
Vladimir Nabokov äussert «Eigensinnige Ansichten»
Vladimir Nabokov war der Albtraum der
Kulturjournalisten. Vor dem Interview mussten die Fragen
schriftlich eingereicht werden, beim persönlichen Treffen las
Nabokov seine Antworten ab. Eine besondere Hürde stellten
Fernsehauftritte dar: Der Meister verbarrikadierte sich hinter
Stapeln von eigenen Büchern, um seine Karteikarten mit den
Antworten vor der Kamera zu verstecken. Der Vergleich des
gesendeten Interviews mit dem Text der Karteikarten zeigt,
dass Nabokov Bitten nach zusätzlicher Präzisierung konsequent
abblockte und überhaupt kaum von seinem vorgefertigten Text
abwich. Symptomatisch ist ein Fernsehinterview für den NDR aus
dem Jahr 1966, das mit einer effektvoll einstudierten Szene
endete. Auf die Frage «Schreiben Sie einen neuen Roman?»
antwortete Nabokov, die Brille abnehmend: «Ja.» - «Möchten Sie
darüber sprechen?» - Direkt in die Kamera: «Nein.»
Das Resultat solcher Interviews ist oft
zwiespältig: Auf der einen Seite stellen Nabokovs Interviews
literarisch anspruchsvolle und sorgfältig formulierte Texte
dar, auf der anderen Seite bekommt man jedoch kaum einen
authentischen Eindruck des grossen Wortkünstlers, dem die
Literatur erklärtermassen als sublime Form der Täuschung galt.
Ein solcher Anspruch ist in diesem Fall aber möglicherweise
ganz unangemessen: Nabokov arbeitete sorgfältig an seinem
Image; spontanes Verhalten setzte er mit naiver
Unreflektiertheit gleich. Mit Vorbedacht schirmte er sein
Privatleben von den Journalisten ab, eine Home-Story wäre ihm
ein Graus gewesen. Dagegen amüsierten ihn die angestrengten
Versuche von Interviewern, biografische Parallelen zu Episoden
aus seinen Büchern zu suchen. Solche Fragen waren ihm nur
Beweis für das fehlende ästhetische Urteilsvermögen seiner
Gesprächspartner. Nabokovs Standardlösung bestand in der
Bemerkung, es gebe keinen Realismus und die Kunst verfüge über
eine eigene Realität.
Letztlich schöpfte Nabokov in seinen Interviews
aus einem beschränkten Fundus von Meinungen. In einem
Manuskript mit dem Titel «Favourite Hates» stellte Nabokov im
Oktober 1964 sogar eine Liste seiner Hassobjekte zusammen. Die
einzelnen Positionen stammen aus den unterschiedlichsten
Bereichen, weisen aber einen gemeinsamen Nenner auf: die
Nichtrespektierung der schöpferischen Individualität. So
verwahrt sich Nabokov gegen Musikberieselung, «Schmierereien»
oder «Schrottskulpturen» aus der Avantgardekunst, Klubs,
«feindselige» Gegenstände wie den zusammengefalteten
Taschenschirm, der sich nicht mehr öffnen lässt, Babys in
Eisenbahnzügen und schliesslich vier Doktoren: Dr. Freud, Dr.
Schweitzer, Dr. Schiwago, Dr. Castro.
Neue Entdeckungen
Es ist dem Herausgeber Dieter E. Zimmer zu
verdanken, dass den deutschsprachigen Lesern im
internationalen Vergleich die zuverlässigste und
bestkommentierte Nabokov-Werkausgabe zur Verfügung steht.
Nicht nur die sorgfältige Aufbereitung des Textes ist
vorbildlich; auch Zimmers Nachworte bieten ausnahmslos eine
fundierte und innovative Einführung in die Thematik. Von
geplanten 24 Bänden sind bereits 18 erschienen. Der neuste
Band vereinigt Interviews, Feuilletons und Essays aus den
Jahren 1921 bis 1977, die entweder schwer zugänglich oder
überhaupt noch nicht publiziert waren. Unter diesen
Trouvaillen findet sich etwa ein wichtiger Vortrag aus dem
Jahr 1926, in dem sich Nabokov gegen den «Dämon der
Verallgemeinerung» wendet.
Hier äussert sich ein Impetus, der als
repräsentativ für Nabokovs gesamtes Werk gelten kann: Nabokov
forderte nicht nur sich selbst, sondern auch seinen
Übersetzern absolute Detailtreue und stilistische Genauigkeit
ab. Von derselben Abneigung gegen allgemeine Systeme und
verbindliche Wahrheitsentwürfe ist ein kurzer Zeitungsartikel
aus dem Jahr 1927 beseelt, in dem Nabokov anlässlich des
Zehn-Jahre-Jubiläums der Oktoberrevolution mit der ihm eigenen
scharfen Zunge über den «süsslich-sentimentalen Beigeschmack
der bolschewistischen Spiessbürgerlichkeit» herzieht.
Eine besondere Entdeckung ist die
Erstveröffentlichung einer Vorlesung über Thomas Mann, die
Nabokov vermutlich im Jahr 1950 geschrieben hat. Bisher war
Nabokovs rabiate Ablehnung nur durch einzelne boshafte
Bemerkungen über Manns Werk belegt, das er als «big fake»
bezeichnete. Durch den neu entdeckten Text wird deutlich,
woran genau Nabokov sich störte. Er monierte, dass Thomas
Manns Figuren klischeehafte Konstruktionen seien, die in
durchsichtiger Weise für diese oder jene allgemeine Idee
stehen: «Sie wollen eine rührende Figur? Vier Zutaten reichen:
Frau, alt, klein, arm. Da haben Sie sie. Sie wollen einen
stolzen Aristokraten? Bitte sehr - Monokel, Gamaschen,
Schnurrbart, Hund.» Nabokovs Indignation wurde möglicherweise
noch durch das vergebliche Warten auf den Nobelpreis
verstärkt, für den er sich durchaus zu Recht als valablen
Kandidaten sah - 1974 stand er mit Saul Bellow und Graham
Greene auf der short list des Komitees. In einem Interview
bekannte er, er schreibe nicht schlechter als Rabindranath
Tagore (Preisträger von 1913), Grazia Deledda (1926) oder -
wie man hinzufügen könnte - Thomas Mann (1929).
Ansichten über die Schweiz
Der neue Essayband enthält schliesslich einige
amüsante Helvetica. Der finanzielle Erfolg von «Lolita»
erlaubte es Nabokov, sich von seiner Professur an der
Cornell-University zurückzuziehen. Von 1961 bis zu seinem Tod
im Jahr 1977 lebte Nabokov mit seiner Frau in einer Hotelsuite
in Montreux. Nabokov machte jeweils drei Gründe für die Wahl
seines Domizils geltend: Sein Sohn singe an der Mailänder
Oper, die Schweizer Post sei zuverlässig, und in den Schweizer
Bergen gebe es eine Menge faszinierender Schmetterlinge. Die
Interviews bieten allerdings auch einen Wermutstropfen für das
Schweizer Selbstbewusstsein. Nabokov mochte das Bier nicht:
«Feldschlösschen ist etwas für Feldmäuse.» Ausserdem störten
ihn die trostlosen Wintermonate und die einheimischen Hunde,
die seinen alten Barsoi nicht akzeptierten. Auf den Punkt
brachte Nabokov seine grundsätzlich wohlwollende Haltung zur
Schweiz in einem Interview mit der «Tribune de Lausanne» aus
dem Jahr 1963: «Ich habe nichts an der Schweiz auszusetzen.
Nur an den Kühen. Sie vertreiben die Schmetterlinge.»
Ulrich M. Schmid
Vladimir Nabokov: Eigensinnige Ansichten.
Herausgegeben von Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen,
Russischen, Französischen und Italienischen von Dieter
E. Zimmer, Sabine Hartmann, Christel Gersch, Kurt Neff,
Gabriele Forberg-Schneider, Karin Finkenmeier und Norbert
Randow. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2004. 656 S., Fr.
65.30.
Neue Zürcher Zeitung, 20. November 2004, Ressort
Feuilleton