22. März 2004, 02:11, Neue Zürcher Zeitung Das doppelte LottchenEin sensationeller Fund in Sachen NabokovVladimir Nabokov, das weiss jeder, der schon einmal ins Universum seiner Bücher eingetaucht ist, ist stets für eine Überraschung gut. Schier unerforschlich scheinen die Zeichen und Figuren, die er seinen Texten eingeschrieben hat, fast endlos die inneren Anspielungen und äusseren Bezüge, und wenn einmal ein Schmetterling oder Eichhörnchen durch die Szene huscht, kann man fast sicher sein, dass mehr dahinter steckt als ein Stück Natur. Nun scheint dem Werk des russischen Exilschriftstellers, der es 1955 mit dem auf Englisch erschienenen und sogleich skandalisierten Roman «Lolita» zu Weltruhm brachte, ein weiteres Geheimnis abgerungen worden zu sein - von Michael Maar, dem bewährten deutschen «Literaturdetektiv», der einem ersten Hinweis von Rainer Schelling nachging und das Ergebnis seiner Recherche letzten Freitag in der «FAZ» vorstellte. Seither steht das Nymphchen Lolita, Nabokovs populärste, wohl aber auch abgründigste Figur, nicht mehr allein auf weiter Flur, sondern ! besitzt eine um fast vier Dezennien ältere Verwandte gleichen Namens, erfunden von einem Schriftsteller, dessen Name bisher so gut wie niemandem ein Begriff war. Eine spanisch-deutsche Lolita«Lolita» heisst eine achtzehn Seiten umfassende Erzählung, die im Jahre 1916 in einem Erzählungsband mit dem Titel «Die verfluchte Gioconda» erschien. Ihr Verfasser war der 25-jährige Heinz von Lichberg (1891-1951), der es während der Weimarer Republik als Journalist und Schriftsteller zu einiger Bekanntheit brachte, bevor er 1937 eine Karriere in der Wehrmacht begann. Lichberg war einer der beiden Live-Radioreporter, die am 30. Januar 1933, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, den Fackelzug der Nazis durchs Brandenburger Tor euphorisch kommentierten. Sein Stück handelt von einem kultivierten Mann mittleren Alters, der sich auf einer Spanienreise am Meer in einer Pension einmietet und mit der blutjungen Tochter des Hauses, bei deren erstem Anblick es ihm die Sinne verschlägt, eine amour fou erlebt, in deren Verlauf es auch zur sexuellen Vereinigung kommt. Am Ende stirbt das Mädchen, und der Ich-Erzähler bleibt, vom Erlebten gezeichnet, zurück. «Ein leichtes Gefühl der Unwirklichkeit und des Déjà-vu» habe sich bei ihm bei der Lektüre eingestellt, schreibt Michael Maar. Auch Nabokovs Humbert Humbert, ebenfalls ein Ich-Erzähler, kommt in einer seenahen Pension unter, doch statt in die sich ihm aufdrängende Hauswirtin verliebt er sich augenblicklich in deren halbwüchsige Tochter, die ihm als Wiedergeburt seiner ersten kindlichen Liebe am Meer, Annabel, erscheint. Gemeinsam ist beiden Texten der jähe Moment der Verzauberung, und in beiden Fällen übernimmt Lolita die Initiative der Verführung - wobei deren Folgen, der Zeit entsprechend, von Lichberg weit verblümter beschrieben werden als von Nabokov, der mit seinen freizügigen erotischen Schilderungen nur knapp der Zensur entging. «Die Übereinstimmung von Handlungskern, Erzählperspektive und Namenswahl» sei frappierend, schreibt Maar, indes gebe es «kein logisches Gesetz, das uns verraten würde, ab wann eine bestimmte Anzahl von Koinzidenzen aufhört, Zufall zu sein».! Schlüssige IndizienKann Vladimir Nabokov wirklich - bewusst oder unbewusst - von Lichbergs Erzählung zu seinem Meisterwerk angeregt worden sein? Die äusseren Umstände schliessen dies nicht aus: Nabokov war 1922 nach Berlin gekommen und blieb dort bis 1937, seine Deutschkenntnisse - 1947 sprach er von «a fair knowledge» - reichten aus, sich mit einer Deutschen vorübergehend zu verloben. Nachgewiesen ist die Kenntnis nicht nur Hofmannsthals, Kafkas, Heines und Goethes, sondern auch von Zeitgenössischem wie Leonard Franks Roman «Bruder und Schwester» aus dem Jahr 1929. Lichbergs Stück könnte Nabokov also durchaus in die Hände geraten sein. Maar weist darüber hinaus nach, dass der Stoff Nabokov interessieren musste, hatte dieser doch schon 1934 den ersten Entwurf zu «Lolita» einer Nebenfigur des Romans «Die Gabe» in den Mund gelegt. Fünf Jahre später entfaltete der Kurzroman «Der Zauberer» das Thema weiter. Indes reicht die Kette der dämonisch-phantasmagorischen Kindfrauen weiter zurück, bis zur Erzählung «Ein Märchen» von 1926, deren Finale in der «Hoffmann-Strasse» spielt. Von E. T. A. Hoffmann wiederum ist zu Beginn von Lichbergs Erzählung die Rede. Einen weiteren Anhaltspunkt bietet der Name Walzer, der in Nabokovs Annabella-Drama «Die Walzer-Erfindung» von 1938 wie bei Lichberg für ein geheimnisvolles Brüderpaar steht. Ein weiteres starkes Indiz liefert Maar die Tatsache, dass Lichbergs Lolita einem Fluch und dämonischen Wiederholungszwang unterliegt - düster-teuflische Zusammenhänge, die auch bei Nabokov findet, wer nur ein bisschen am Lack der Erotik und des American way of life kratzt. Loli! ta sei, so hat es der russische Autor einmal selbst formuliert, ein «unsterblicher Dämon, verkleidet als Kind». Da erstaunt es schon fast nicht mehr, dass die Wirkung des Liebeszaubers (25 Jahre) und das Finale einer traumartigen Mordszene in beiden Werken korrespondieren. Lolita - ein doppeltes Lottchen? Bewiesen ist vorerst nichts, doch ist es die Komplexität von Maars Argumentation, die einen Zusammenhang plausibel macht. Die Menge der Fäden, die da zusammenlaufen, passt trefflich ins Bild von Nabokovs schriftstellerischem Eklektizismus, und es frappiert eigentlich nur die offene Namensgleichheit, die man dem russischen (Selbst-)Verbergungskünstler, der sein Genie nie unter den Scheffel stellte, kaum zugetraut hätte. Freilich muss auch gesagt sein: Falls Lichbergs kleine Lolita wirklich eine massgebliche Inspirationsquelle gewesen ist, wirft das auf Nabokovs grosse Lolita keinen Schatten. Figurenaneignungen oder Motivverwandlungen sind ein gängiges und legitimes künstlerisches Verfahren. Auf dass Neues entstehe, hat Literatur immer schon sich selbst verdaut. «Lolita» war bisher ein Solitär; dass sie eine kleine Schwester erhalten hat, tut ihrer Bedeutung keinen Abbruch und ist nicht der schlechteste Grund, das Buch wieder (oder endlich!)! zu lesen. Es ist, Heinz von Lichberg sei's hiermit gedankt, von einer Magie, der man leicht für immer verfallen kann. Andreas Breitenstein | |
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