EDNOTE. NABOKV-L thanks Ulrike Goldschweer for this
item. There is also probably a Russian version. If someone runs across it,lwase
send it in.
----- Original Message -----
Sent: Thursday, October 09, 2003 4:33 AM
Subject: VN as the "founding father" of modern Russian
literature
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The editor of "Novoe literaturnoe
obozrenie", Irina Prochorova, names Nabokov as the founding father of the new
Russian literature that emerged at the end of the 20th century (the article
appeared in the context of the Frankfurt Book Fair):
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IRINA
PROCHOROWA
Nabokovs Urenkel
Die russische Literatur ist ästhetisches
Babylon
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DIE AUTORIN
Irina
Prochorowa leitet den Moskauer Verlag "Novoe Literaturnoe Obozrenie" (Neue
Literarische Rundschau) und ist auch Herausgeberin sowie Chefredakteurin der
gleich lautenden Literaturzeitschrift, die in diesem Verlag erscheint.
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Vor kurzem stieß ich in der
Buchhandlung eines internationalen Flughafens auf The Commissariat of
Enlightenment, ein Buch des mir unbekannten Ken Kalfus, blätterte darin herum
und sah die üblichen Namen: Lenin, Stalin, Tolstoi... Ich kaufte das Buch mehr
aus Berufs- als aus Leserneugier. Am Ende meiner langen Reise stellte ich
überrascht fest, dass ich es durchgelesen hatte. Es glich so gar nicht den für
die westliche Unterhaltungsliteratur so typischen "russischen Sujets": Thriller
mit finsteren neuen Russen, die von italienischen Mafiosi bedrängt werden;
sentimentale Variationen zum Thema "Doktor Schiwago" und "Nikolai und
Anastasia", gewandte journalistische Berichte über die Schrecken des
Totalitarismus oder die Probleme der Demokratie in Russland.
Die
Erzählung beginnt auf der Bahnstation Astapowo, wo Leo Tolstoi stirbt und die
Journaille und die Filmproduzenten das menschliche Drama vor unseren Augen in
ein heuchlerisches Sensationsmelodrama verwandeln; sie endet mit der
Einbalsamierung der Leiche Lenins und der endgültigen Verwandlung der jungen
Kinoindustrie in ein gewaltiges Propagandawerkzeug. Das kühne Spiel mit der
russischen Geschichte, der Konflikt der historischen "Realität" mit dem
historischen "Gedächtnis" (als Konstrukt der Massenmedien), die Reflexionen über
die doppelte Natur des künstlerisch Erdachten und die gefährliche Verbindung von
Kunst und Ideologie - dieses Themenbündel ist der zentrale neuralgische Punkt
der aktuellen russischen Literatur.
Man denkt sofort an die Romane Viktor
Pelewins, in denen eine permanente Mythologisierung der kanonisierten
sowjetischen Helden stattfindet und eine fiktive Realität mit Hilfe der
Computer- und Fernsehtechnik geschaffen wird. The Commissariat of Enlightenment
könnte auch ein ironisches Spiel der finsteren, nekrophilen Phantasien eines
Vladimir Sorokin sein oder die antiintellektuelle Dystopie einer Tatjana
Tolstaja, in deren Werken die Probleme des Erinnerns und Vergessens, der
historischen Tatsache und der künstlerischen Freiheit bis zum äußersten
zugespitzt sind. Die Metaphorik der historischen Realität (die Umwandlung des
Lebens und Schaffens Leo Tolstois in eine Heiligenbiografie) und die
buchstäbliche Umsetzung der literarischen Metaphern (Lenins Unsterblichkeit wird
von seiner Mumie verkörpert) - beide Tendenzen bedingen einander und
konfrontieren den Künstler mit dem Problem der Identifikation: Was ist als
Tradition zu sehen und was als Neuheit, wo endet die Vergangenheit und wo
beginnt die Gegenwart?
Symptomatisch, dass Ken Kalfus wiederholt die
Figur Nikolai Fjodorows auftreten lässt, eines russischen Religionsphilosophen
des 19. Jahrhunderts, der die Theorie aufgestellt hat von der Überwindung des
physischen Todes, von der Auferstehung der Väter und einer endzeitlichen
Harmonie aller sich wieder vereinigenden Generationen. Ich wage zu behaupten,
dass die Theorie Fjodorows schon absolute Wirklichkeit geworden ist, zumindest
auf ästhetischem Gebiet, denn in der gegenwärtigen russischen Literaturszene
agiert ein phantastischer Reigen von Schriftstellern aller Zeiten und Völker,
und jeder von ihnen erhebt Anspruch auf Aktualität und Einfluss. Die armen
Kritiker strampeln sich ab bei dem sorgfältigen Versuch, in diesem Wirbel
schneller ästhetischer Expropriationen und Adaptionen auch nur einen schwachen
Ansatz von "Mainstream" zu entdecken. Das Jahrmarktskarussell dreht sich immer
schneller und die "Hüter der Schöngeistigkeit" beklagen immer lauter den
Untergang der großen russischen Literatur. Doch in diesem augenscheinlichen
Chaos gibt es eine versteckte Logik und historische Motivation.
Das, was
wir im heutigen Russland beobachten, ist nichts anderes, als die vierte
ungestüme ästhetische Modernisierung in den letzten zweihundert Jahren der
Existenz des Landes im westeuropäischen Kontext. Die "Kulturrevolution" der
neunziger Jahre unterscheidet sich von den vorangegangenen vor allem durch eine
beispiellose Offenheit der russischen Kultur gegenüber der ganzen Welt - niemals
zuvor hatte es ein ganzes Jahrzehnt einer fast absoluten Freiheit von
Zensurbeschränkungen gegeben. Früher verbotene und unzugängliche ausländische
Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die russische Emigrantenliteratur, das
westliche intellektuelle und philosophische Gedankengut, die Kultur des
Underground, die wirtschaftlichen und sozialen Wissenschaften - das alles
zusammen mit den Computern und dem Internet stürzte mit einem Mal in den
russischen Kulturraum und alles verwandelte sich in moderne und aktuelle
Literatur. Doch wie sollte man sich in diesem ästhetischen Babylon
orientieren?
Fragen Sie in Russland irgendeinen Passanten, wen er für den
wichtigsten russischen Schriftsteller hält, und er wird ohne zu überlegen
herausplatzen: "Puschkin!" Und er wird nicht recht haben, denn de facto sitzt
auf dem (trans-)nationalen Thron eines Gründervaters der neuen russischen
Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts endgültig Nabokov. Er verkörpert den
mächtigen alternativen Zweig in der Entwicklung der zeitgenössischen Dichtkunst
in Bezug auf die so genannte "Tolstoi-Tradition", die künstlich konserviert und
diskreditiert wurde von den sowjetischen offiziösen Organen. Aber die
Schlüsselstellung Nabokovs im zeitgenössischen russischen künstlerischen
Bewusstsein ist nicht nur mit seinen kühnen, stilistischen und genrehaften
Experimenten verbunden, sondern auch mit seiner Selbstpositionierung, die
prinzipiell verschieden von der traditionellen Rollenverteilung des russischen
Schriftstellertums ist.
Als Gegengewicht zum Tolstoischen patriarchalen
Modell eines Künstlerlebens (verwurzelt in der lokalen Kultur, belehrend und
politisierend) hat Nabokov die Figur des "globalen Künstlers" geschaffen, der
zwischen verschiedenen kulturellen Schichten existiert, oft entfremdet nicht nur
seiner Heimat, sondern auch der Sprache und der aus dem Drama der Vertreibung
eine positive und produktive schöpferische Position aufbaut. Dieser Strategie
bedurfte das zeitgenössische künstlerische Bewusstsein um so mehr, als die
russische Modernisation traditionell von mächtigen Emigrantenwellen begleitet
war, als die nur kurze Öffnung der russischen Kultur nach innen wie nach außen
von einer neuen Welle strenger Isolierung abgelöst wurde. Charakteristisch ist,
dass sogar die Dissidenten und die Nonkonformisten der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts sich als "innere Emigranten" bezeichneten und sich damit von der
offiziösen Kultur und der totalitären Tradition distanzierten. In den neunziger
Jahren, in denen das ganze Land aus der UdSSR "emigrierte", infizierte sich die
russische Literatur endgültig mit Nabokov. Und wenn man versuchen wollte, die
unwahrscheinliche Vielfalt der literarischen Arbeitsmethoden im modernen
Russland zu beschreiben, so könnte man dies nur tun, indem man das
unterschiedliche Verhältnis der Autoren zur Vergangenheit betrachtet, ihre
Deutung, ihr Vergessen und ihre Bewältigung der Geschichte. Die gesamte
zeitgenössische innovative Literatur schuldet ihre Existenz der inoffiziellen
Nachkriegskunst. Gerade sie beschäftigte sich mit dem realen sowjetischen Raum,
anstatt in Hochglanzmythen die romantische Attraktivität der sowjetischen
Ideologie darzustellen. Das Monster des sowjetischen Alltags und Lebens brachte
die russische Variante einer Ästhetik des Absurden und der Grausamkeit zur Welt
("Tschernucha"), die von so verschiedenen und eindrucksvollen Schriftstellern
wie Wenedikt Jerofejew (in seinem Meisterwerk Die Reise nach Petuschki),
Juri Mamlejew oder der kraftvollen Welt des Leningrader Underground erfolgreich
gepflegt wurde. Mit der Dekonstruktion der sowjetischen Mythologie befasste
sich erfolgreich die konzeptualistische Kunst (in der Literatur Dmitri Prigow,
der frühe Vladimir Sorokin und Edward Limonow). Das Eigentümliche ist, dass
einige dieser Klassiker der modernen Literatur nicht nur noch am Leben sind,
sondern auch aktiv am gegenwärtigen literarischen Prozess beteiligt sind, ihn
beeinflussen, seine Richtung in vielem bestimmen. Das ist, einerseits, damit
verbunden, dass einer breiten literarischen Öffentlichkeit der größte Teil des
Erbes dieser Autoren erst in den neunziger Jahren bekannt wurde und neben dem
Debüt junger Schriftsteller als künstlerische Neuheit fungierte. Dmitri Prigow
etwa wird erst seit Beginn der neunziger Jahre in größerem Umfang gedruckt.
Ferner machten viele ehemalige Nonkonformisten, nachdem sie ihr Schaffen in
einem neuen Kontext fortsetzten, eine recht starke Entwicklung durch. Wenn
früher ihre Hauptaufgabe darin bestand, das Parade-Tableau der sowjetischen
Geschichte zu demontieren, indem sie die Elemente der Ästhetik des "großen
Stils" zum Grotesken und Absurden führten, so bemühten sie sich in den neunziger
Jahren die entgegengesetzte Aufgabe zu lösen - das Dasein erneut zu
harmonisieren und in das neue Bild der Welt Splitter des früheren Lebens
einzufügen, die der Wind der revolutionären Ereignisse Ende der achtziger Jahre
fortgetragen hatte. Bisher befinden sich die meisten ehemaligen
Avantgardisten in einem neuen Experimentierstadium. Die von ihnen geschaffenen
Traditionen der sozialen, brutalen Prosa und des konzeptuellen Spiels mit den
Ideologien bringen weiter, wie in den neunziger Jahren, mannigfaltige üppige
Keimlinge hervor, darunter auch Blumen des Bösen. Die aus dem Underground
stammende Tradition des Absurden und der Grausamkeit (die berüchtigte
"tschernucha") fiel auf den fruchtbaren Boden des postsowjetischen Chaos und
spielte dort eine führende Rolle. Einerseits rechtfertigte das soziale und
kulturelle Clondyke, in das sich das ehemalige sowjetische Imperium schnellstens
verwandelte, zusammen mit den die Periode des "Goldfiebers" begleitenden Sitten
und Diskursen, zum Teil die traditionelle Ästhetik des Wahnsinns und der
Verzweiflung. Andererseits beschränkte diese Ästhetik, die sich in einem
völlig anderen soziokulturellen Kontext entwickelt hatte, die Möglichkeit, neue
Kulturhorizonte zu sehen, die sich in der Epoche der Modernisierung der
Gesellschaft öffneten, in dem sie zwei prinzipiell verschiedene historische
Perioden ungerechtfertigt auf ethischem Niveau miteinander verglich. Deshalb
erwiesen sich viele junge Schriftsteller, deren Kindheit in die Mitte der
achtziger Jahre fiel und deren Vorstellung über die Vergangenheit sich nicht auf
Lebens- sondern nur auf literarischer Erfahrung herausbildete (ein merkwürdiges
Gemisch aus sowjetischer Schulliteratur, an der Zensur vorbei geschaffener Werke
und der Begeisterung für westliche Beatniks), als äußerst unkritische
Verbraucher und Produzenten der "Tschernucha", wodurch sie eigentlich zu Geiseln
des veralteten Koordinatensystems wurden. Diese Tendenz ist ausgezeichnet zu
erkennen im literarischen Debüt von Irina Denežkina (Komm), in dem Roman
von Michail Jelisarow (Die Nägel) und in den Texten von Sergej Bolmat
(In der Luft). Sie greifen ebenfalls mit Vergnügen die Tendenz des
ironischen Spiels mit den totalitären Attributen und der Metaphorik auf, und
deshalb verbindet sich in ihren Werken Brutalität, die dicht mit Erotik und
obszöner Sprache verwebt ist, mit dem Eintauchen in einen quasihistorischen
Kontext, der, ähnlich den Installationen der Konzeptualisten, aus dem "Plunder
toter Symbole" geschaffen ist. Es zeigte sich aber, dass das leichtsinnige
Spiel mit der sowjetischen Symbolik, sobald der Kontext verschwunden und
vergessen ist, der dieses Stilmittel hervorgebracht hat und berechtigte,
durchaus keine unschuldige Beschäftigung ist und dass die totalitären Symbole
bis heute über eine gewaltige ideologische, radioaktive Sprengkraft verfügen.
Und wenn noch in den neunziger Jahren die Paarung Stalins mit Chruschtschow oder
die Tänze Lenins mit Rosa Luxemburg gewöhnlich assoziiert wurden mit einer
inneren Befreiung der Gesellschaft aus der Leibeigenschaft und dem fröhlichen
Abschied von der verhassten Ideologie, so führten die nachfolgende
Kommerzialisierung und die Neuauflage totalitärer Attrappen (in der Literatur,
wie im Fernsehen) zur Reanimierung der Vergangenheit, zu einem Aufflammen der
Nostalgie nach "der guten alten sowjetischen Zeit" (vor allem unter der
Jugend!). Und das lässt erneut die alte, schmerzhafte Frage stellen nach der
Wechselbeziehung zwischen Kunst und Ideologie, Künstler und Macht, der ethischen
und der ästhetischen.
Diese Problematik hat in Russland ungewöhnliche
Aktualität erfahren im Zusammenhang mit den kürzlichen Skandalen um Vladimir
Sorokin, dessen Romane die radikale Gruppierung "Zusammengehen" zu
pornografischen Werken erklärte und eine gerichtliche Untersuchung verlangte,
und ebenso um die Inhaftierung Edward Limonows, der des unerlaubten
Waffenhandels bezichtigt wurde. Die Gesellschaft beurteilte diese Vorgänge
gerechterweise als Versuch der Obrigkeit, die Zensur wieder einzuführen und den
Künstler seiner Schaffensfreiheit zu berauben. Allerdings waren viele, die die
Schriftsteller aktiv vor Repressionen schützen wollten, verunsichert dadurch,
dass die Aktionen der Gruppe "Zusammengehen" sich im Grunde wenig unterscheiden
von dem schockierenden Auftreten der aktuellen Kunst und manchmal fast den
Romanen Sorokins entsprungen sein könnten. Als sie die Befreiung Limonows aus
dem Gefängnis forderten, gerieten die Sympathisanten in eine noch schwierigere
Lage, denn sie mussten mit Schweigen übergehen, dass der Schriftsteller der
Schaffung einer halbfaschistischen Partei beschuldigt wurde. Wenn man dabei noch
berücksichtigt, dass Sorokin und Limonow in den letzten zehn Jahren von elitären
Konzeptualisten der jüngeren Generation zu kommerziell erfolgreichen
Massenschriftstellern wurden, die schonungslos totalitäre Symbolik und Diskurs
ausbeuteten, so muss man resigniert feststellen, dass sie in vielem den Sturm
ernteten, den sie selbst säten. Bisher biegen sich die Regale der russischen
Buchhandlungen unter der finsteren Epigonenlast der großen nonkonformistischen
Tradition der sozialen Groteske. Nur allmählich beginnt sich eine andere -
offensichtlich Nabokov'sche - innovative literarische Tendenz herauszubilden.
Vor unseren Augen vollzieht sich in der aktuellen russischen Literatur ein
zügiger Übergang von der Emigration zur Diaspora. Die Entwicklung einer neuen
kulturellen Identität ist besonders bemerkbar in den drei Migrationszentren
Amerika, Deutschland und Israel. Das Auftauchen von Schriftsteller- Emigranten
wie Andrej Makine in Frankreich, Gary Shteyngart in Amerika und Wladimir Kaminer
in Deutschland, die ihre überdachte und bereicherte "russische Erfahrung" in die
Sprache ihrer neuen Heimat übertragen, lässt vermuten, dass wir es mit einer
prinzipiell neuen Erscheinung zu tun haben. Schon bei Nabokov stellte sich die
Frage, ob er ein amerikanischer oder ein russischer Schriftsteller sei. Das
"Nabokov-Phänomen" beweist, dass Russland in die globalisierte multikulturelle
Welt eintritt. Aus dem Russischen von Christiane Stachau.
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erstellt am 06.10.2003 um 19:32:00 Uhr Erscheinungsdatum 08.10.2003
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