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23. Juli 2003, 02:11, Neue Zürcher Zeitung Avantgarde heuteDas 33. Festival Santarcangelo dei TeatriWahrscheinlich gibt es in ganz Italien keinen Ort, an dem nicht im Sommer irgendeine Art von Festival stattfindet. Neben so weltberühmten wie Verona oder Venedig bestehen Hunderte, wenn nicht Tausende von lokalen Veranstaltungsreihen, bei denen auf der örtlichen Piazza Film, Theater oder Musik präsentiert wird, und das meist umsonst. Und dann sind da noch die kleinen feinen Festivals, deren Insiderruhm eine kuriose Publikumsmischung aus lokaler Bevölkerung, Theaterleuten der weiteren Umgebung und Festivaldirektoren aus halb Europa bewirkt. Ein solches ist Santarcangelo dei Teatri, dessen künstlerische Ambitionen sich schon an der ungewöhnlichen Plakatwerbung ablesen lassen: Fotos von im letzten Weltkrieg zerstörten Theatergebäuden - honi soit qui mal y pense! Begonnen hat es 1971 als Festival des Strassentheaters und der Politik, später, als Politik und Strasse weniger bestimmend wurden in der Kunst und im Leben, verlegte sich das Festival auf experimentelle Theaterformen und damit auf Innenräume - heute wird sowohl drinnen wie draussen gespielt, und das nicht nur in Santarcangelo di Romagna, sondern ebenso in den Nachbargemeinden, von Rimini und Bellaria bis Longiano und San Mauro Pascoli. Die Vorstellungen sind zeitlich so aufeinander abgestimmt, dass man, Auto vorausgesetzt, mehrere hintereinander sehen und sich danach im Festivalzelt des Circo Inferno Cabaret die Nacht um die Ohren schlagen kann. Die gut zwei Dutzend Aufführungen des 33. Festivals kommen fast alle aus Italien - eine der wenigen Ausnahmen ist die Ungarin Edit Kaldor, deren Soloperformance «or press escape» in diesem Sommer überall als Geheimtipp gehandelt wird. Man sieht nur Rücken und Hinterkopf der Akteurin: Die sitzt an ihrem Laptop, dessen Bildschirm wandfüllend projiziert wird, und schreibt. Abgebrochene, immer wieder neu probierte Versuche der Kontaktaufnahme, Einkaufslisten, Memo-Zettel, Bewerbungen, alles angefangen und liegengelassen, aber stets aufeinander bezogen - wenn sie jemanden zu sich einlädt, folgt gleich ein «Kaffee kaufen» in der To-do-Liste. Es ist eine spröde Performance ohne Anfang und Ende, die man langweilig finden kann oder witzig, je nachdem, wie sehr man sich auf sie einlässt. Alltägliches, das durch Veröffentlichung zur Kunst erhoben wird, das Entstehen des Werks als Inhalt des Werks - neu ist das nicht, aber gut gemacht, mit einer gesunden Mischung aus formaler Strenge und verschmitztem Humor. Es endet im Chatroom, aber man weiss nicht recht, wann. So, wie sie schon schrieb, als die Zuschauer hereinkamen, so schreibt die Performerin jetzt weiter, während sie gehen. Jeder bestimmt seinen Schluss selbst, nach 30 Minuten oder nach 90, und befolgt damit unbewusst die oberste Performance-Regel: Handeln als Definition. Die Arbeiten von Danio Manfredini stehen ziemlich genau am entgegengesetzten Ende der Bühnenskala: Alles ist Ästhetik, Grellheit, Schrei, eine Theatersprache wie die Symbiose aus Kantor und Pasolini. Man kann über Einzelheiten seines neuen Stücks streiten, es ist zu lang, zu repetitiv, auch zu kitschig - aber was für eine Wohltat, nach all dem Herumstochern im Avantgardenebel plötzlich einer echten Regisseurspranke zu begegnen! Endlich jemand, der weiss, was er will, auch wenn er es manchmal nicht kriegt; der obsessiv ist und theatralisch, pathetisch und dabei voller Selbstironie. «Cinema Cielo» erzählt vom gleichnamigen Pornokino in Mailand, das nicht mehr existiert, und von seinen Besuchern, die das offensichtlich noch tun. Ein Sammelsurium von Menschen und Puppen, die dem verfilmten Genet-Roman «Notre Dame des Fleurs» beiwohnen oder einander. Es gibt keine Geschichte (ausser der des Films), stattdessen die Beschreibung einer Situation: Cruising, Anziehung/Abstossung, Beherrschung und Unterwerfung. All die Transvestiten, Spanner, Narzissten und mentalen Equilibristen werden von nur drei Schauspielern dargestellt plus einer Schauspielerin als Kassiererin-Übermutter sowie von lebensgrossen Puppen, die sich von den Personen kaum unterscheiden und für einen Quickie allemal gut sind. Manfredini ist eine Entdeckung als Autor, Schauspieler und Regisseur - wie blass nimmt sich gegen ihn jene «avanguardia storica» aus, deren avancierte Ästhetik oft im Kontrast zur bieder-konventionellen Schauspielerei steht und deren Forminteresse die behaupteten Inhalte eher erschlägt statt erhellt. Teatrino Clandestino beispielsweise zeigt in «La bestemmiatrice» eine Mutter, die ihre beiden Kinder umbringt, und obwohl Jesus persönlich sich um sie bemüht, ist über Motive, Hintergründe und Voraussetzungen der Tat nichts zu erfahren, was über die üblichen Klischees hinausginge. Oder Fanny & Alexander: Neben «Alice vietato ›18 anni», einer schwächlichen Lewis-Carroll-Adaption, präsentieren sie mit «Ardis I (Les enfants maudits)» einen von sieben geplanten Teilen der Familienchronik «Ada» nach Vladimir Nabokov. In einem Zimmer mit vielen Bilderrahmen öffnen sich Tapeten und Spiegel, um Augen, Ohren, Münder preiszugeben, die von Wollust und Inzest raunen. Die Wunderkammer spricht, wie Magritte malte, alles ist doppelbödig und geheimnisvoll und der Einfall faszinierend. Aber die Form, so verblüffend sie anfangs auch sein mag, läuft schnell ins Leere, da sie unverrückbar scheint. Ein System zu erfinden, um es dann nur zu erfüllen, nicht mit ihm zu spielen oder es zu zerschlagen, ist fürs Avantgardetheater tödlich und für Nabokov ohnehin. Dann doch lieber das Teatro delle Albe mit «I Refrattari», einer an Jarry geschulten Tragikomödie über Mutter und Sohn, die zum Mond auswandern, weil Mammas Tagliatelle nicht mehr so gut schmecken wie früher, auch die Mafia nicht mehr das ist, was sie einmal war, und der senegalesische Flüchtling, den sie zum Arbeiten mitnehmen, jederzeit 2:1 überstimmt werden kann. Nur schmuggelt der seine Brüder in die Rakete (wodurch die Demokratie verrutscht), hat die Mafia natürlich eine Dépendance dort oben und findet die Mutter ihre Erfüllung als überm Dach schwebende Heilige. Das Stück ist witzig und sprachgewaltig, glänzend inszeniert und gespielt. Autor, Regisseur und Theaterleiter Marco Martinelli hat das Theater aus Ravenna längst europaweit berühmt gemacht, mit dem Erfolgsstück «I Polacchi» eilt es seit Jahren von Festival zu Festival. Die Refraktäre könnten's den Polen jetzt gleichtun - schön wär's und verdient. Renate Klett | |
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23. July 2003, 02:11 |
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Avant-garde today33. Festival Santarcangelo dei Teatri |
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Probably there is no place in completely Italy, at which in the summer any kind of Festival does not take place. Beside as world-famous as Verona or Venice hundreds, if not thousands of local meeting rows, with which on the local Piazza film, theatre or music one presents, and that exist usually in vain. And then is there still the small fine Festivals, whose Insiderruhm causes a strange public mixture from local population, theatre people of the further environment and Festivaldirektoren out half Europe. Such is Santarcangelo dei Teatri, whose artistic ambitions can be read off from the unusual poster advertising: Photo of theatre buildings destroyed in the last world war - honi qui times y pense soit! Began it 1971 as Festival of the road theatre and the policy, later, than politics and road became determining less in the art and in the life, was shifted the Festival on experimental theatre forms and with it on interiors - today both inside and outside one plays, and not only in Santarcangelo di Romagna, but likewise in the neighbour municipalities, from Rimini and Bellaria to Longiano and San Mauro Pascoli. The conceptions are co-ordinated temporally so that one, car presupposed, can several one behind the other see and thereafter in the Festivalzelt of the Circo inferno Cabaret the night around the ears strike oneself. Those well two dozen of performances 33. Festivals come nearly all from Italy - one of the few exceptions is the ungarin Edit Kaldor, whose solo performance "or press escape" in this summer everywhere as if secrettap one acts. One sees only backs and back of the head the document urine: Those sits at its laptop, whose screen is wind-filling projected, and writes. Broken one off, tried again and again again attempts of the establishment of contact, purchase lists, note note, applications, everything begun and lie-let, but referred always one on the other - if it someone to itself in-loaded, follows equal a "coffee buys" in the ton DO list. It is a brittle performance without beginning and end, which one can find boringly or funny, depending on how much one gets involved in her. Ordinary, which is raised by publication to the art, developing the work as contents of the work - that is not new, but well made, with a healthy mixture from formal severity and verschmitztem humor. It ends in the Chatroom, but one knows not quite, when. So, as it already wrote, when the spectators came in, then continues to write the Performerin now, while they go. Everyone determines its conclusion, after 30 minutes or according to 90, and obeys thereby the highest performance rule unconsciously: Act as definition. The work of Danio Manfredini stands rather exactly at the opposite end of the stage scale: Everything is aesthetics, sharpness, cry, a theatre language like the symbiosis from Kantor and Pasolini. One can argue about details of its new piece, it is too long, too repetitiv, also too kitschig - however which for a wohltat to suddenly meet after all the Herumstochern in the avant-garde fog a genuine Regisseurspranke! Finally someone, which knows, what it wants, even if sometimes he does not kriegt it; that obsessiv is theatralisch, pathetisch and and full self irony. "Cinema Cielo" tells of the Pornokino of the same name in Milan, which does not exist any longer, and of its visitors, who obviously still do that. A Sammelsurium of humans and dolls, those attend the filmed Genet novel "Notre lady of the Fleurs" each other or. There is no history (except that of the film), instead the description of a situation: Cruising, attraction/repulsion, control and subjecting. All the Transvestiten, tension adjusters, Narzissten and mental Equilibristen by only three actors represented plus an actress as a cashier over nut/mother as well as of life-large dolls, which hardly differ from the persons and are good always for a Quickie. Manfredini is a discovery as author, actor and a director - as palely that one excludes itself "avanguardia storica" against him, whose been promoted aesthetics often stands in the contrast to the conventional-conventional playthingplaything plaything and whose interest of form maintained contents rather kills instead of illuminates. Teatrino Clandestino for example shows a nut/mother, that kills its two children in "La bestemmiatrice", and although Jesus strives personally for her, nothing is to experience over motives, background and conditions of the act, what would go beyond the usual plates. Or Fanny & Alexander: Beside "Alice vietato ›18 anni", a weak Lewis Carroll adaptation, present them with "Ardis I (Les enfants maudits)" from seven planned parts of the family chronicle "Ada" after Vladimir Nabokov. In a room with many bilderrahmen wallpapers and mirrors open, in order to abandon eyes, ears, mouths, which raunen from Wollust and Inzest. The miracle chamber speaks, like liking rides painted, everything is doppelboedig and mysterious and the idea fascinatingly. But the form, like that it at the beginning of also to be astonishing likes, runs fast in emptiness, since it seems unverrueckbar. A system to invent, in order to then fulfill it only not to play with it or it too smashed, is deadly and for Nabokov anyway for the avant-garde theatre. Then nevertheless rather the Teatro depression Albe with "I Refrattari", a trained a Tragikomoedie over nut/mother and son, at Jarry, which do not emigrate to the moon, because Mammas Tagliatelle as in former times, also the Mafia no more taste no longer as good are what was it once, and which Senegalese refugee, whom they carry forward for working, can be outvoted at any time 2:1. That only smuggles its brothers into the rocket (whereby the democracy slips), has the Mafia naturally a Dépendance there above and finds the nut/mother their fulfilment as holy one floating over the roof. The piece is funny and languageenormously, shining produced and easily. Author, director and theatre leader Marco Martinelli made the theatre from Ravenna long European-wide famous, hurry with the piece of success of "I Polacchi" it for years from Festival to Festival. The Refraktaere koennten's Poland does now - beautifully waer's and earns. Renate Klett |