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24. Dezember 2002,  02:08, Neue Zürcher Zeitung

Goethe, Nabokov und, ach, die Schweiz

Thomas Hürlimann und Urs Widmer sammeln ihre Essays

Ohne das bekannte Bild eidgenössischen Dioskurentums auffrischen zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass Zeitgeist wie intellektuelle Disposition Urs Widmer und Thomas Hürlimann immer wieder aufs Neue in eine bemerkenswerte Nähe zueinander rücken. Nicht zuletzt haben sich sowohl der 1938 in Basel geborene Widmer als auch der zwölf Jahre jüngere Zuger Hürlimann mit zahlreichen Arbeiten zur Dramaturgie der Schweiz und über deren Schriftsteller fest in die Tradition der Schweizer Literatur eingebunden. Jüngste Zeugnisse dieses Selbstverständnisses finden sich in zwei Sammelbänden: «Himmelsöhi, hilf! Über die Schweiz und andere Nester» vereinigt mehrheitlich während der vergangenen drei Jahre in verschiedenen Zeitungen publizierte Essays und Kurzgeschichten sowie Reden von Thomas Hürlimann und ist in der zweiten Auflage um das Pamphlet «Die Schweiz hat die besten Verrückten!», Hürlimanns in der «Zeit» abgedruckten Beitrag zur Zürcher Theaterposse vom letzten Spätsommer, komplettiert worden. In formaler Hinsicht nicht minder heterogen nimmt sich Urs Widmers «Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück» aus, worin weitschweifige und geistreiche Abhandlungen neben rund zwei Dutzend im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» veröffentlichten Kolumnen stehen.

Helvetisches Malaise

Mit einem Schlenker zu Goethe (Hürlimann) beziehungsweise Tschechow, Joseph Conrad und Nabokov (Widmer) spannen die beiden Autoren in ihren Texten einen zeitlich und geographisch weit geöffneten Bogen bis zum helvetischen Malaise unserer Tage. In seinem im Oktober 2001 in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» erschienenen Essay «Himmelsöhi, hilf!» deutet Thomas Hürlimann den Konkurs der Swissair als Symptom für das «Ende einer Ära». Seine Ansichten sind wohl nicht neu, allerdings selten zuvor derart prägnant formuliert worden. Etwa hätten die Schweizer nach dem Fall des Eisernen Vorhanges jäh «ein Problem mit der Zeit, genauer: mit zwei Zeiten. Denn im Schweizerhaus galt nach wie vor das Postkutschentempo, da ging der Bürger im sonntäglichen Spazierschritt. Die andere Welt jedoch, die grosse, worin wir mit unseren Geldern und Marken ja ebenfalls zu Hause waren, drehte sich immer schneller (. . .).» Die Stärken des Stilisten Hürlimann liegen freilich weniger im Politischen als in literarischen Sphären - mit «Ahmed, der Levantiner», einer im Doppelsinn des Wortes phantastischen Laudatio auf seinen Verleger Egon Ammann, dem Reisebericht «Spurensuche in Galizien» sowie der augenzwinkernden Reverenz an Goethe, der Kurzgeschichte «Augenmensch und Hörnlimann», setzt Thomas Hürlimann dem Büchlein einige Glanzlichter auf.

Auch Urs Widmer kommt im Titeltext seiner neusten Blütenlese - der schriftlichen Version eines im Dezember 2000 im Zürcher Schauspielhaus gehaltenen Referats - mitunter auf die Doppelexistenz jener Demokratie-Verfechter zu sprechen, die mit beiden Beinen im Wirtschaftsleben stehen. «Wie halten wir das eigentlich aus, ohne irre zu werden, tagsüber Weisungen zu empfangen und Weisungen weiterzugeben, genau nach Funktionsdefinition, und am Abend ein reifer Bürger zu sein, gleichmässig am Wohle aller interessiert?» Die Ängste, «die das Jahr 1989 so überraschend in die Welt gesetzt hat», sind seiner Ansicht nach aber nicht allein auf die Schweiz begrenzt. Ebenso wenig gründen sie in einem aus dem Takt geratenen Zeitmass, sondern im Fehlen eines korrigierenden Gegenübers: Wenn «eine Gesellschaft von einem einzigen Denkmodell beherrscht wird, ist sie kaum mehr fähig, sich selber zu beobachten und zu kritisieren».

Vermeintlicher Patriotismus

Anders als Thomas Hürlimann im Essay «Himmelsöhi, hilf!» neigt Urs Widmer aber nicht zur Verklärung der Schweiz zu Gottfried Kellers Zeiten. Im Aufsatz «Über Gottfried Kellers ‹Fähnlein der sieben Aufrechten›» weist Widmer eben diese vermeintliche «patriotische Hurra-Geschichte» als eine Novelle aus, die erst dann «möglich und notwendig» geworden war, «als die wirkliche Schweiz sich von den Idealen von 1848 entfernt hatte». Überhaupt sind es die klugen literaturwissenschaftlichen Ausführungen, die das Buch so lesenswert machen. Da stört es kaum, dass die Abhandlungen in Teilen oder als Ganzes bereits seit längerem in Buchform vorgelegen haben.

Wem Widmers 1991 unter dem Titel «Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur» publizierte Grazer Poetikvorlesungen noch gegenwärtig sind, wird jedoch zumindest an jener Stelle stutzen, da Widmer seinen Schlüssel zum Verständnis von Nabokovs «Lolita» hervorzaubert: Hatte Widmer diese Interpretationsansätze nämlich einst als die eigenen ausgegeben, erfahren wir jetzt, dass sie offenbar von Widmers Gattin ersonnen wurden. In diesem Sinne darf man sich auf die von Widmer im Keller-Aufsatz angekündigte Studie «Die schrecklichen Mütter der Dichter» freuen - so diese denn um ein Kapitel über «Die gescheiten Ehefrauen der Exegeten» ergänzt sein wird.

Gieri Cavelty

Thomas Hürlimann: Himmelsöhi, hilf! Über die Schweiz und andere Nester. Ammann-Verlag, Zürich 2002. 117 S., Fr. 21.50.

Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Diogenes-Verlag, Zürich 2002. 270 S., Fr. 34.90.

 
 
 

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24th of December, 2002,  02:08, new Zürcher newspaper

Goethe, Nabokov and, oh, Switzerland

Thomas Hürlimann and Urs Widmer collect their(her) essays

Without wanting to refresh the known picture confederate Dioskurentums, nevertheless, can be held that spirit of the times move like intellectual arrangement Urs Widmer and Thomas Hürlimann again afresh in a striking nearness to each other. Younger Zuger Hürlimann with numerous works to the dramaturgy of Switzerland and about their(her) writer have not least integrated themselves the Widmer born in 1938 in Basel as well as twelve years firmly into the tradition of the Swiss literature. The youngest certificates of this self-conception are found in two anthology: « Himmelsöhi, help! About Switzerland and other nests » combines by the majority during last three years in different newspapers published essays and short stories as well as speeches of Thomas Hürlimann and is in the second edition around the pamphlet « Switzerland has the best mad! », Hürlimanns in the "time" printed contribution(article) to the Zürcher theater farce of the last late summer, been completed. In formal respect less diverse does not look Urs Widmers « the money, the work, the fear, the luck » in what pleonastic and witty treatises stand near about two dozens in the "magazine" of the "day indicator" to published columns.

Helvetian time sharps

With a swerve to Goethe (Hürlimann) or Tschechow, Joseph Conrad and Nabokov (Widmer) both authors stretch a curve far opened geographically and temporally up to the Helvetian time sharp of our days in their(her) texts. In his(its) in October, 2001 in the " Frankfurt general newspaper » appeared essay « Himmelsöhi, help! » Thomas Hürlimann interprets the bankruptcy the Swissair as a symptom for the " end of an era ». His(its) views are not probably new, have been formulated but rarely previously such concisely. Possibly the Swiss would have a problem with the time, more exactly after the case of the iron curtain suddenly «: with two times. Since in the Swiss house the Continental stagecoach tempo was still considered(applied), there the citizen went in sonntäglichen Spazierschritt. The other world, however, the big in what we were with our money and brands(stamps) also at home turned much faster (...). » The strong of the stylist Hürlimann lie, of course, less in the political than in literary spheres - with " Ahmed, the Levantine », one in the double meaning of the word fantastic eulogy on his(its) publisher Egon Ammann, to the journey report « trace search in Galicia » as well as the eye-winking reverence to Goethe, the short story « visual person and Hörnlimann », sets up Thomas Hürlimann to the notebook some highlights.

Also Urs Widmer comes in the title text of his(its) neusten anthology - to speak of the written version one in December, 2000 in the Zürcher theatre of held lecture - now and then on the double existence of these democracy advocates who stand with both legs in the economic life. « How we endure this actually, without wanders to become, to receive during the day instructions and to transmit instructions, to be just(exactly) after functional definition, and in the evening a ripe citizen, evenly in the well-being all interests? » Has brought into the world the fears, « the 1989 so surprisingly », are limited to his(its) view after, however, not only to Switzerland. As well a little they base in a time degree got(advised) from the tact, but in the absence of a correcting Gegenübers: If « a society(company) is controlled by a single model for further discussion, she is hardly more able to observe herself and to criticize ».

Supposed patriotism

In a different way than Thomas Hürlimann in the essay « Himmelsöhi, help! » However, Urs Widmer does not incline to the transfiguration of Switzerland at Gottfried's Keller times. In the article « about Gottfried Kellers ‹ little flag of seven upright › » expels Widmer just this supposed « patriotic Hurra history » as a short story which had become only then « possibly and inevitably », « as real Switzerland had gone away from the ideals of 1848 ». Actually these are the wise literature-scientific executions which make the book so worth reading. There it hardly interferes that the treatises have been present in parts or as a whole already for a long time in book form.

To whom Widmers are still current in 1991 under the title « the sixth doll in the belly of the fifth doll in the belly of the fourth and other considerations to the literature » published Grazer poetics lectures, however, will trim at least at this place, because Widmer his(its) key to the understanding of Nabokovs "Lolita» hervorzaubert: if Widmer had spent these interpretation attempts namely once as own, now we experience(find out) that they were invented evidently by Widmers wife. In this sense one may be glad on from Widmer in the cellar article announced study « the terrible mothers of the writers » - so this will be supplemented then around a chapter about the " clever wives of the exegetes ».

Gieri Cavelty

Thomas Hürlimann: Himmelsöhi, help! About Switzerland and other nests. Amman-publishing house, Zurich in 2002. 117 S., Fr. 21.50.

Urs Widmer: the money, the work, the fear, the luck. Diogenes publishing house, Zurich in 2002. 270 S., Fr. 34.90.

 
 
 

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